Grundgedanke

Nach der Lektüre von Dava Sobels "Längengrad" bleibt es nicht aus, dass man sich gedanklich mit John Harrison und seinen so gänzlich vom Gewohnten abweichenden Bauprinzipien befasst. Zu überraschend erscheint es zunächst, dass die damals genauesten Uhren ausgerechnet aus Holz entstanden, fast völlig reibungsfrei und keiner Schmierung bedürfend, und mit der faszinierenden Grasshopper-Hemmung, die eher wie eine kinetische Skulptur erscheint. Nachdem ich weiter recherchiert hatte und die Schriften von Jonathan Betts, David Heskin und Stuart Harrison verschlungen hatte, wuchs der Wunsch, selber eine minimalistische Holzräderuhr in Anlehnung an Harrisons Prinzipien zu bauen. Mein ursprünglicher Ansatz war dabei, so puristisch wie möglich vorzugehen: Je weniger Räder eine Uhr hat, desto einfacher ist natürlich nicht nur der Bau, sondern auch umso weniger Störeinfluss dürfte das Werk selber aufgrund Reibung oder etwaiger Fertigungsungenauigkeiten haben. Mein Ziel einer Zwei- oder Dreiräderuhr erinnert vom Ansatz her stark an die Franklinuhren mit nur drei Rädern, allerdings konnte ich mich nicht mit deren eigenwilligem Vierstundenzifferblatt anfreunden, das zwar für eine Glasenuhr perfekt passen würde, nicht jedoch zu einer zivilen Heimuhr. Meine ursprünglichen Grundgedanken lauteten daher:

• Harrisonsche Grasshopper-Hemmung
• Anzeige von Stunden, Minuten und Sekunden
• Sekundenpendel aus Holz, oder Rostpendel
• Uhrwerk fast vollständig aus Holz
• Nur zwei bis drei Räder, nur eine Verzahnung im Zug
• Lager und Triebstöcke aus Pockholz
• Lagerzapfen aus Berylliumbronze
• vollständiger Verzicht auf Schmierung
• einzige größere Metallteile: Pendelaufhängung, Linse und Gewichte aus Messing
• vollständiger Verzicht auf Eisenmetalle (außer ggf. im Pendel, sofern Rostpendel)
• Fertigung mit Handwerkzeugen oder allenfalls Maschinen mit manuellem Vorschub

Hallo Moritz,

das gefällt mir sehr gut, was du da zeigst und auch deine Überlegungen zu dieser Uhr. Vor allem über die Grasshopper Hemmung freue ich mich riesig. Ich bin schon gespannt wie es weiter geht.

LG
Dieter

Hallo Moritz

Dein Projekt gefällt mir auch sehr gut und werde es natürlich auch weiterverfolgen.
Einen Gedanken habe ich aber dabei: Ist bei den Huygensschen Aufzug mit Seil nicht die Gefahr des Seilschlupfes gegeben? Es ist ja "nur" ein kraftschlüssiger Antrieb und nicht wie sonst bei diesen Aufzug formschlüssig mit Kette.

Frank

Hallo Frank,
kraftschlüssig sollte eigentlich reichen. Wir haben mehrere Uhren mit Huygensschen Aufzug und bei keiner ist eine Kette verwendet worden. Das hält schon recht zuverlässig.
Das Gegengewicht sollte halt nicht vergessen werden.

lg Christian

Euler-Eytelweinsche Seilreibung ist das Stichwort, falls jemand nachschlagen möchte. Die erforderliche Gegenkraft, die von einem Spanngewicht aufzubringen ist, richtet sich nach nach dem Umschlingungswinkel und dem Reibwert. Nehme ich einen Reibwert von 0,3 zwischen Seil und Rolle an, kann das Treibgewicht ca. 2,5-mal so schwer sein wie das Spanngewicht. Eine V-förmige Kontur der Seilnut erhöht die Sicherheit gegen Durchrutschen, ein Riffeln derselben zusätzlich.
Manchmal findet man auch Dornen am Grunde der Seilnut, aber das finde ich eher unschön.

Moritz

Berechnung der Grasshopper-Hemmung

Ich muss gestehen, ein entsetzlicher Theoretiker zu sein, der sich für ein Thema begeistert, dann aber erst einmal alles an verfügbarer Literatur verschlingt und dann monatelang denkt, zeichnet und rechnet, bevor ich ans Ausprobieren gehe. Im Falle dieser Uhr waren es eher mehrere Jahre...

Zur Auslegung der Hemmung gibt es den sehr ausführlichen Aufsatz "Perfecting the Harrison Grasshopper Escapement" von David Heskin, den ich als Grundlage genommen habe. Von den verschiedenen Varianten des Grasshoppers habe ich mich für den Twin Pivot Grasshopper mit zwei geschobenen Paletten entschieden, weil sie sich symmetrisch auslegen lässt, so dass der aufs Pendel wirkende Hebelarm der Kräfte beider Paletten gleich ist. Wer die Hemmung nicht kennt: Auf Youtube gibt es eine wunderhübsche Animation von Ken Kuo:

• Steigrad mit 120 Zähnen, wie es auch Harrison bevorzugte
• an Eingangs- und Ausgangspalette gleiche Hebelarme der aufs Pendel wirkenden Kraft
• während des Pendelbogens wächst der Hebelarm, wie von Harrison gefordert, um den Faktor 3/2
• von (etwa) 1/100 der Pendellänge (wie von Harrison gefordert)
• aus Symmetriegründen gleich lange Paletten
• Pendelbogen von ca. 11° (bzw. 5,5° Amplitude)

• Für jede Zähnezahl des Steigrads gibt es eine geeignete Anker-Spannweite, die den gewünschten Pendelbogen erzeugt:
  Spanne = WURZEL (70*Zähnezahl / POTENZ(Hebungsbogen; 1,5))
  Mit 120 Zähnen und 11° Pendelbogen also 15,5 Zähne Anker-Spannweite.
• Der mittlere Hebelarm ist direkt vom Modul des Steigrads abhängig, sofern der Pendelbogen vorgegeben ist:
  Pendelbogen [°] * Hebelarm [mm] = 90° * Modul [mm]
  Beziehe ich den von Harrison geforderten Hebelarm von 1/100 der Pendellänge auf den Hebelarm zum Zeitpunkt des Fangens einer Palette (10 mm), der dann im Laufe des Eingriffs auf 15 mm steigt, passt das sehr gut mit einem Steigrad von 200 mm Durchmesser oder einem Modul von 1,67 zusammen, dass sich noch einigermaßen mit Handwerkzeugen fertigen lassen sollte.

Faszinierend, was man alles rechnen kann und vor allem auch, was man zu Harrisons Zeiten irgendwie ermitteln konnte!

Soll die Uhr wirklich gebaut werden oder bleibt es bei den theoretischen Überlegungen? Ich bin sehr gespannt und beneide Dich um deine Motivation.

Am Design gefällt mit weniger, dass die Formen der Platinen den Zifferblattringen weder folgen, noch wirklich davon abweichen. Mir scheint, eine klare optische Abgrenzung des Räderwerks vom Rest würde das intuitive Verständnis des Werks verbessern, eine deutliche Betonung des Räderwerks dem Charakter der Uhr eher entsprechen.
Schön wäre es meiner Meinung nach auch, wenn die Hemmung nicht hinter der Platine fast verschwinden würde.

Toll. Chapeau.
Welches Programm hast du für die Simulation benutzt?
Herzliche Grüsse
Albrecht

Zitat von Spornrad im Beitrag #8

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Welches Programm hast du für die Simulation benutzt?

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Ich bin begeistert! Hätte nie gedacht das mich Großuhren mal so begeistern würden.

weiter geht's:

Berechnung der Triebstockverzahnung

Das Minutenrad mit ebenfalls 120 Zähnen soll etwa 300 mm Durchmesser und damit einen Modul von 2,5 erhalten, wie er sich aus Buchenholz-Feinschichtsperrholz noch gut fertigen lassen sollte. Harrison verwendete durchweg Laternentriebe mit drehbaren, hölzernen Rollen, die bei mir 4 mm Durchmesser bekommen sollen, gelagert auf 1 mm-Achsen.

Harrisons Zahngeometrie war sehr einfach, mit geraden Flanken und abgerundeter Zahnspitze. Davon abweichend habe ich versucht, die Geometrie der Verzahnung zwischen Minuten- und Steigrad aufwändig mit einem dafür geschriebenen Exceltool zu optimieren. Bei einer Triebstockverzahnung ergibt sich für ein konstantes Übersetzungsverhältnis zunächst eine Epizykloide als Zahnkontur. Diese Zykloide ist durch Teil- und Rollkreisdurchmesser festgelegt. Diese vermeintliche Idealform der Zykloide hätte allerdings, wie ich hier im Forum lernen musste, in der Praxis (außer der aufwändigen Fertigung) einige Nachteile: Der Zahnkontakt beginnt und endet symmetrisch zur Mittellinie, so dass man im ersten Teil bis zur Mittellinie stemmende, selbstverstärkende, sog. eingehende Reibung hätte, und nur im zweiten Teil die günstigere ziehende, ausgehende Reibung. Außerdem würden zeitweise mehrere Zähne tragen. Im Maschinenbau ist das zwar ausdrücklich gewünscht. Bei einer handgefertigten Uhr hätte man aber schon bei kleinsten Fertigungsungenauigkeiten unklare Verhältnisse, welcher Zahn gerade trägt, und damit, ob gerade ein- oder ausgehende Reibung stattfindet.

Schon aus Gründen einfacherer Zeichen- und Fertigbarkeit ersetzt man die Zykloiden meist durch eine mittels Kreisbögen angenäherte Verzahnung. Durch minimale Variation von Radius und Mittelpunkt dieser Kreisbögen kann man die Verzahnung nun gezielt so verändern, dass der überwiegende Kontakt erst nach dem Passieren der Mittellinie stattfindet, und dass eine eindeutige Übergabe des Kontakts von einem Zahn auf den nächsten stattfindet, so dass stets nur ein einzelner Zahn trägt. Erkauft wird dies allerdings durch leichtes Abweichen von einem konstanten Übersetzungsverhältnis: Das Trieb eilt nach dem Kontaktwechsel auf den neuen Zahn zunächst ein wenig vor, um damit sich damit alten Zahn zügig zu entfernen, um kurz vor dem erneuten Wechsel wieder etwas zurückzufallen und so den Kontakt eindeutig auf den nächsten Zahn zu übergeben. Hier im Bild sieht man den Verlauf dieser kleinen Winkelabweichung von einer gleichförmigen Übersetzung:



Durch das oben geschilderte, abwechselnde leichte Vor- und Nacheilen schafft man einen definierten Übergangspunkt des Kontakts von einem Zahnpaar zum nächsten und vermeidet eine erratische Varianz im Reibmoment, wie man sie bei mehreren gleichzeitig tragenden Zähnen hätte, allerdings ersetzt man sie durch eine periodische leichte Schwankung im Abtriebsmoment aufgrund des leicht variierenden Übersetzungsverhältnisses. Die aber immer gleich und daher hoffentlich besser beherrschbar ist. Wenn man es ganz geschickt macht, kann man es wohl sogar schaffen, dass das periodisch schwankende Abtriebsmoment (das kurz vor dem Ende des Zahnkontakts am stärksten ist, wenn das Trieb verlangsamt) und das ebenfalls periodisch schwankende Reibmoment (das kurz vor dem Ende des Zahnkontakts am stärksten ist, wenn die Gleitgeschwindigkeit am größten ist) sich gegenseitig ein Stück weit kompensieren. Weitere Ziele sind, dass der Kontakt den Zahn bereits vor seiner empfindlichen Spitze wieder verlässt, und dass die Verzahnung möglichst unempfindlich gegenüber geringen Fehlern im Achsabstand ist. All das gilt es beim Herantasten an die olptimale Zahnkontur zu berücksichtigen.

Ich habe nicht weniger als 11 unterschiedliche Varianten berechnet, ausgewertet und verglichen, bis ich einen befriedigenden Kompromiss zwischen den genannten, sich teilweise widersprechenden Zielen gefunden hatte. Hier sieht man eine Animation der Excelberechnung des Eingriffs: Solange Kontakt zwischen Zahn und Triebstock stattfindet, ist dessen Position durch das kreuzförmige Koordinatensystem angezeigt. Es trägt nur der kreisbogenförmige Teil der Zahnflanke, es findet fast nur ausgehende Reibung statt, und rechtzeitig vor der Spitze wird der Zahn wieder verlassen.

Zitat von mikromeister im Beitrag #7

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Soll die Uhr wirklich gebaut werden oder bleibt es bei den theoretischen Überlegungen? Ich bin sehr gespannt und beneide Dich um deine Motivation.

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Zitat von mikromeister im Beitrag #7

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Am Design gefällt mit weniger, dass die Formen der Platinen den Zifferblattringen weder folgen, noch wirklich davon abweichen.

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Zitat von mikromeister im Beitrag #7

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Mir scheint, eine klare optische Abgrenzung des Räderwerks vom Rest würde das intuitive Verständnis des Werks verbessern, eine deutliche Betonung des Räderwerks dem Charakter der Uhr eher entsprechen.
Schön wäre es meiner Meinung nach auch, wenn die Hemmung nicht hinter der Platine fast verschwinden würde.

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Ich bin ja immer noch völlig hin und weg!
Durch den Comitti-Thread bin ich in Kontakt mit peterg gekommen und hatte ihm die Berechnung der Hemmung geschickt.
Und der hat offenbar gar nicht lange gezögert und die Hemmung in CAD konstruiert und auf seinen 3D-Drucker geschickt:



Und das Tollste ist:
Das Ding tickt bereits!