Na, jetzt lasst doch mal den Lagerfeld in Ruhe liegen.

Lagerfeld war sehr belesen, hochintelligent, diszipliniert, selbstreflektierend, offen und - zumindest, was den Bereich der Mode betraf - ein Brückenbauer innerhalb Europas. Er sprach fließend mindestens Deutsch, Englisch, Französisch - und zwar derart fließend, dass es ihm teilweise gar nicht auffiel, in welcher Sprache er sich gerade bewegte - auch zur Verwunderung seiner jeweiligen Gesprächspartner.

Natürlich hat er polarisiert, seinen eigenen Stil gehabt und sich selbst auch gut vermarktet, doch hat er niemals beleidigend auf jemanden herabgesehen. Sein Spruch: "Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren." muss im Kontext gesehen werden - und sogar ich denke: "Wenn hier Leute in Jogginghose einkaufen gehen, bin ich am falschen Ort!", denn es ist mir tatsächlich unangenehm. Außerdem hat Lagerfeld selbst Sportbekleidung entworfen, das sollte nicht vergessen werden.

Irgendeine Buxe hat mit Sicherheit jeder im Schrank. Es geht dabei aber nicht nur um eine Selbstdarstellung, sondern auch um den Ausdruck seiner Wertschätzung gegenüber den Menschen, denen man da draußen begegnet. Ich meine dabei nicht die Jogginghose, die zum Sport getragen wird oder die, die man auf dem Weg vom Krankenhaus zum Kiosk auf der gegenüberliegenden Straßenseite trägt. Und natürlich ist sein Spruch überspitzt! Doch gerade so regte er auch zum Denken an.

Kurz und prägnant.

Er ist immer zu einem cleveren Wortspiel bereit gewesen, auch hat er sich selbst nicht zu ernst genommen, verlangte aber auch immer ein gewisses Gegenüber. In den vielen Interviews, die man im Internet finden kann, wird das deutlich. Er hatte eine feste Meinung zu bestimmten Dingen, Gegebenheiten und Entwicklungen. Das braucht man aber auch, wenn man im Top-Management unterwegs ist.

Sein Glück war, dass er seine Meinungen gerade zur passenden Zeit und beim passenden Modehaus durchsetzen konnte. Zum großen Erfolg ist aber auch nicht immer alles geworden - aber auch das ist eine Form von Luxus: Sich Niederschläge und Fehler leisten zu können.

In jedem Interview antwortete er offen und ehrlich auf sämtliche Fragen (außer denen, die nun wirklich zu unverschämt waren und zu persönlich wurden), mit aller Ehrlichkeit und Offenheit. Schaut man sich Interviews mit ihm an, erkennt man, dass er sogar seine Geschäftsmodelle preisgab. Vollumfassend, denn mehr steckte da tatsächlich nicht hinter. Kein Abitur, kein Studium, kein...

Ansonsten: Einfach nur machen!

Das, was er erreicht hat, hätte jeder von uns ebenso durchziehen können - gemacht hat es aber keiner (und versucht sicherlich auch nicht). Insofern kann auch kein Neid aufkommen.

Er entstammt aber auch einer Zeit, wo Leistung noch einem Zeugnis oder Zertifikat überwog. Jeder konnte sich beweisen. Heute werden erst mal Zettel sortiert... Aber dafür konnte Lagerfeld nichts, diese Entwicklung kam erst später. Und ich glaube nicht, dass er Befürworter dieser Entwicklung gewesen ist. Ich glaube, dass bei ihm das Ergebnis gezählt hätte, nicht der Hintergrund. Schaut Euch Phils Videoliste an und achtet mal auf die Bäuerin. Oder auf den armen Schuhmacher.

Es waren nicht nur Dior, Fendi und Chanel, auch für H&M hat er gearbeitet - und hat so einer breiten Kundschaft Zugang zu seiner Arbeit eröffnet. Prêt-à-porter ist nicht etwa etwas Tolles (wie Haute Couture - das ist der richtige Stoff! George Daniels, Abraham Louis Breguet, Rainer Nienaber, Vianney Halter, Matthias Naeschke, Greubel Forsey, Thomas Prescher, ... alles Namen, die wir kennen!) - Prêt-à-porter ist nur ein toller Ausdruck. Prêt-à-porter ist "Kleidung von der Stange" - und die trug er selbst. Er trug aber nicht seine selbst geschaffene Kleidung, sondern bediente sich besonders gerne aus fremden Regalen, denn "meine eigene Kleidung kenne ich ja bereits".

Er unterschied zwischen "sich anzuziehen" und "sich anzukleiden" - und für diesen Unterschied sollten wir (als Uhrenliebhaber) zumindest ein Gespür, wenn nicht sogar ein Verständnis entwickeln können. Auch war er Kritiker einseitiger und zu sehr zielgerichteter Informationen, die heute im Internet frei zur Verfügung stehen. Der Rahmen und die Inspirationen drumherum würden fehlen - und da gebe ich ihm (als IT'ler!) vollkommen Recht. Viel zu oft erwische ich mich selbst, nur schnell nach einer Lösung zu suchen, ohne das komplette Drumherum endlich mal begreifen zu wollen.

Karl Lagerfeld war - so liest man in der Presse - einer der 500 reichsten Deutschen. Warum nicht einer der 1.000 reichsten Deutschen? Weil er da eben im Mittelfeld gelandet wäre. So ist er einer der 300...500 Reichsten gewesen, damit er in eine glaubhafte Skala passt. Aber er war auch keiner der 200 Reichsten. Wie viel ist denn über die 150 Reichsten bekannt? Wer von denen gibt sich so offen, wie es Lagerfeld getan hat? Wo ist die Liste - und: Warum haben die so viel Kohle? Vielleicht ist ja einiges wesentlich unrühmlicher, als Lagerfelds Arbeit...

Hier ist eine dieser Listen: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_...hsten_Deutschen, da sind einige Schwergewichte bei, Platz 118 z.B. mag ich persönlich gar nicht...

Also: Wo ist die Spitze von Aldi, BMW, Oetker, Otto, Liebherr, SAP? Kühne + Nagel (besonders unrühmliche Vergangenheit!)? Lieber etwas weiter unten? OK: Wo seid ihr von Gardena, Vitakraft, Zentis, Jungheinrich, Coppenrath und Wiese?

Ex-Kanzler Gerhard Schröder steht da nicht drin, Josef Ackermann auch nicht. Was ist mit Joschka? Immerhin macht der doch auch in Öl... Was mich aber auch irgendwie wundert - ich dachte, die hätten mehr auf dem Kasten...

Nichts. Funkstille. Stillschweigen. Geheimnisse. Mittendrin ein munter plaudernder Kalle.

Lagerfelds Art die Modewelt durchzuschütteln, übertrug sich auf sein gesamtes Umfeld. Beachtenswert ist dabei die Sympathie und Wertschätzung seiner Mitarbeiter ihm gegenüber, die in der von Philipp aufgeführten Videoreihe hervorragend zum Ausdruck kommt. Auch sind kritische Stimmen dabei, die allerdings der Situation, und nicht der Person geschuldet sind. Ausreichend weitere Interviews stehen bereit, um sich tatsächlich mit dem "Phänomen Lagerfeld" zu beschäftigen, ohne gleich im Voraus abzuwinken und falsche Schlüsse zu ziehen.

Das wäre auch zu einfach: Nur, weil man selbst nicht gerade auf eine Porsche-Sammlung blicken kann, ist nicht gleich die gesamte Gesellschaft daran Schuld - das wäre zu kurz gedacht.

Lagerfeld verstarb im Alter von 86 Jahren und hätte gerne noch seine nächste Kollektion zusammen gestellt. Ein Alter, in dem die Meisten sicherlich gerne schon 20 Jahre Rente genossen hätten.

Mit Karl Lagerfeld hat eine große und in jede Richtung offene Persönlichkeit die Bühne verlassen.

Naja, ich mochte ihn halt, bewunderte ihn eben um seine Art und wollte das hier nicht unkommentiert stehen lassen.

Es fehlt jetzt tatsächlich was - vor allem ein Vorbild. Es geht nicht immer nur um Rendite.