Guten Morgen alle miteinander :-).

Ich habe eine Longines Taschenuhr Kaliber 19.71N über Kleinanzeigen gekauft, von der es hies, das sie ewig in der Schublade lag und deshalb nicht läuft.

Bei der Revision stellt sich heraus, das u.a. das Malteserkreuz samt Schraube am Federgehäuse fehlt, Foto anbei.

Kann mir hier jemand in irgendeiner Weise weiterhelfen? Hat das Ersatzteil oder weiß, wo ich eines herbekomme? Nehme natürlich auch gerne das Federhaus komplett ab.

Freue mich auf eure Antworten. LG, Bernd

Hallo Bernd,
Leider haben viele Kunden in der Zeit der Genfer Stellung in Taschenuhren den Urmacher gebeten, das Malteserkreuz zu entfernen um die Gangreserve zu erhöhen. Eine echte Unart vergangener Tage. Darüber ist dann fast immer das Malteserkreuz verloren gegangen. Das Deine Uhr nicht läuft muss an einem anderen Fehler liegen. Ich hatte vor einem Jahr das selbe Problem und hab' bei Ebay UK ein ganzen Sack von bestimmt 300 alten Federhäusern gekauft. Da war dann per Zufall ein passendes dabei.
Muss jetzt frühstücken und melde mich später wie Du die Maße des Malteserkreuzes herausfindest.
Gruß Alex

Hallo Alex,
danke für deine schnelle Antwort. Das die Uhr nicht läuft liegt an der Feder, die wird nicht mehr vom Federkern mitgenommen, weil sie ausgeleiert ist.

Falls es da keine gravierenden Nachteile gibt, wenn das Maltheserkreuz fehlt, soll mir das recht sein. Mich würde allerdings interessieren, welche genaue Funktion dieser Mechanismus hat. So wie ich es sehe, kann der Federkern nur in eine Richtung gedreht werden. Die andere Richtung wird gesperrt (?).

Ich nehme mal den faulen Dienstweg:
https://de.wikipedia.org/wiki/Malteserkreuzgetriebe
Vollaufgezogen ha die Feder die meiste Kraft, die an die Räder abgegeben wird - die Uhr läuft schneller
kurz vor dem kompletten Ablauf ist die Federkraft geringer - die Uhr läuft langsamer
Mit dem Malteserkreuz "arbeitet" die Uhr mit einer fast gleichbleibenden Federkraft - zudem wird ein Überziehen verhindert
https://www.youtube.com/watch?v=Gt4VVWuhRR8

Lieber Bernd,
die Genauigkeit einer mechanischen Uhr hängt stark davon ab, dass ihr eine gleichbleibende Kraft zugefüttert wird. Eine traditionelle Zugfeder aus blauem Stahl hat aber die Eigenschaft ganz am Anfang überproportional stark zu sein und am Ende auf den letzten Wicklungen überproportional schwach. Die gute Nachricht ist, dass die Kraft, die sie auf den mittleren Windungen abgibt, deutlich gleichmäßiger ist. Hier wäre doch ein Mechanismus hilfreich, der die Kraftabgabe der Feder auf eben diese mittleren Windungen begrenzen würde. Und genau das leistet die sogenannte "Genfer Stellung" oder auch "Malteserkreuz Stellung". Wenn Du mal versuchst, vor Deinem geistigen Auge die Räder der unteren Zeichnung zu drehen, wirst Du feststellen das der Finger des Fingerrades genau viermal ungehindert in eine Nut des Malteserkreuzes greifen kann und beim fünften mal blockiert wird. Wenn Du jetzt also die Feder auf, sagen wir 1,5 Windungen vorspannst, dann das Fingerrad aufsetzt, hast Du beim weitern Aufziehen der Uhr die Zugfeder auf vier Windungen begrenzt. Und genau so läuft sie auch wieder ab.

2020_oct_geneva_stop.jpg - Bild entfernt (keine Rechte)

Der Grund, weshalb wir irgendwann Uhren ohne Malteserkreuz Stellung bauen konnten, liegt darin, dass ein Physiker Namens Guillaume irgendwann kurz vor der Jahrhundertwende Stahlsorten erfand, deren elastische Eigenschaften alles was vorher gebaut wurde übertrafen. Diese Sorten nannte er Invar und Elinvar.

Eine vollständige Anleitung zur Konstruktion einer Malteserkreuz Stellung findest Du in "Jules Grossmann, Lessens in Horology, Le Locle, 1905". Findest Du im Netz als pdf. Danach kann man Schritt für Schritt eine Zeichnung - so wie oben anfertigen. Alles was man dazu benötigt ist der Mittenabstand der beiden Räder. Du kannst dann, zeichnerisch den genauen Durchmesser des fehlenden Malteserkreuzes ermitteln. Wenn Du Dir - wie ich - ein Sack voll Altfederhäuser besorgst, reicht es auch nur den Mittenabstand zu messen, denn: zu einem Mittenabstand kann es nach der Konstruktion von Grossmann nur eine Malteserkreuzform geben. Gleicher Mittenabstand gleiches Malteserkreuz.

Das ist zugegebener Maßen ein bisschen viel auf einmal. Alternativ kannst Du auch alles so lassen wie es ist. Die Uhr wird laufen. Wirklich wichtig ist nur, das Du das Fingerrad eingebaut lässt, so wie auf Deinem Bild. Wenn Du es entfernst, bohrt sich der Vierkant, auf den es lose gesteckt ist, in das untere Federhauslagerloch und richtet furchtbare Zerstörung an.

Viel Glück und Gruß
Alex

Bernd, eins hab ich noch vergessen. Du kannst meine Zeichnung ausdrucken, auf Pappe oder Sperrholz kleben, ausschneiden und ein wunderbares Modell bauen.
Gruß Alex

Zitat von Alexander Törzs im Beitrag #6

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Du kannst meine Zeichnung ausdrucken, auf Pappe oder Sperrholz kleben, ausschneiden und ein wunderbares Modell bauen.
Gruß Alex

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Megasonic, hat recht. Wenn das für Dich in Frage kommen sollte, kann ich Dir gerne die Original CAD Zeichnung als Datei schicken.
Gruß Alex

@alle: Vielen lieben Dank für alle eure Erklärungen und Ausführungen. Ihr seit die Besten!!! Jetzt weiß ich erst mal umfassend Bescheid über den Sinn und die Funktion des Maltheserkreuzes. Und das dieses Maltheserkreuz nicht obligat ist, nimmt dem ganzen Thema die Dringlichkeit für mich :-). Ich komme, denke ich, auch erst mal gut ohne ein MK aus ;-).

@Alex Und nebenbei noch etwas über Zugfedern gelernt (Invar und Elinvar)
@Oggy danke für die Links. Hab ich mir angeschaut

Zitat von Alexander Törzs im Beitrag #5

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dass ein Physiker Namens Guillaume irgendwann kurz vor der Jahrhundertwende Stahlsorten erfand, deren elastische Eigenschaften alles was vorher gebaut wurde übertrafen. Diese Sorten nannte er Invar und Elinvar

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Selbstverständlich hat der Mikromeister recht. Mit Invar hat aber alles angefangen. Für Zugfedern tatsächlich nicht geeignet. Aber Elinvar war eine beliebte Legierung ab kurz vor dem 2. Weltkrieg für Zugfedern und der Wegbereiter für spätere Legierungen wie Nivarox. Für diese Leistung hat Guilaume tatsächlich und verdientermaßen irgendwann in den 1920ern den Nobelpreis bekommen.
Gruß Alex

Zitat von Alexander Törzs im Beitrag #11

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Aber Elinvar war eine beliebte Legierung ab kurz vor dem 2. Weltkrieg für Zugfedern und der Wegbereiter für spätere Legierungen wie Nivarox.

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Stimmt. Mein ich auch. Hab mich verdaddelt, wie wir Hamburger sagen.
Gruß Alex.

Hallo Bernd,
leider fehlt das Malteserkreuz, prinzipiell wie vorher gesagt erstmal keinen Einfluss auf die Funktion der Feder...( aber für den verfügbaren konstanten Kraftabgabebereich der Feder). Danke für die guten Erklärungen zuvor! Denke mal du hast in der Zwischenzeit das Federgehäuse geöffnet. Auf deinem Foto sieht man leider nicht genau ob die Feder richtig eingerastet ist mit dem kleinen Federsperrhaken. Dann würde in dem unteren, dunkel erscheinenden Loch eine kleine Spitze sichtbar sein. Beim aufziehen kann die gesamte Feder also durchrutschen und hält die Spannung nicht. Oder die Feder hat nur einen Sperrhaken, würde dann auf der anderen Seite des Gehäuses sein. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass der Mitnahmehaken der Welle nicht mehr genau schlüssig mit der Öse der Feder ist. Die Öse kann man zärtlich mit starker Pinzette wieder hinbiegen. Habe gerade auch ein Longines Projekt mit Totalaufbau einer Savonette um 19. Jahrhundert und stolpere von einer Baustelle in die andere. Habe sonst nix zu tun . Habe mal ein paar aktuelle Bilder angehängt, gestern das Teilprojekt Federgehäuse fast fertig gestellt. Ggf. die Welle noch etwas im Umfang anpassen.
Gruß Thomas

Zitat von Oggy im Beitrag #4

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Mit dem Malteserkreuz "arbeitet" die Uhr mit einer fast gleichbleibenden Federkraft - zudem wird ein Überziehen verhindert

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